Im Morgenmagazin gehört, zitert aus ARD-Text, Seite 141 (10.1.2018, 7:00 Uhr):
Weniger „chronisch“ Arbeitslose
Die Zahl der Menschen mit andauernden Problemen bei der Jobsuche ist in den letzten Jahren stark zurückgegangen. Galten 2006 noch 2,6 Millionen als „chronisch“ arbeitlos, waren es 2015 nur 1,2 Millionen. Damit hat sich der Anteil mehr als halbiert.
Im Gegensatz zu Langzeitarbeitslosen (12 oder mehr Monate durchgängig ohne Job) können „chronisch“ Arbeitslose trotz kurzer Phasen der Beschäftigung oder Fördermaßnahmen auf dem Arbeitsmarkt nicht Fuß fassen. Die Zahl der Langzeitarbeitlosen ging von 2006 (1,9 Millionen) auf 500.000 (2015) zurück.
[sic, die Inkonsistenz der Wiedergabe von 2006-2015 ist so im Text]
Von den Schwächen der Arbeitsmarktstatistiken mit ihren Ausschlüssen von Millionen Menschen und der dadurch systematisch unterschätzten Zahl Betroffener, der konsequent unterbleibenden Einführung einer „Unterbeschäftigten-Statistik“, die da wesentlich ehrlicher wäre, der eigentlich falschen Bezeichnung „arbeitslos“ und dem besseren Begriff „erwerbslos“ und dem Dogma Erwerbsarbeit als einzige Option für Strukturierung und Sinnfindung mal ab – mein Standpunkt dazu sollte im Wesentlichen bekannt sein.
Aufreger heute ist die Bezeichnung für diejenigen, die im erfolgreich eingeführten Niedriglohnsektor mit beschränkten Arbeitnehmerrechten (den Begriff mag ich auch nicht, siehe dazu auch die ‚Fußnote‘ im ersten Blogpost zu Streiks) nicht „Fuß fassen“ –
und hier schon wieder ein kurzer Exkurs: Oder aber der Dumping-Sektor funktioniert durchaus wie geplant und produziert nachhaltig einen Pool von prekär Beschäftigten, die zwischen ALG2, Leiharbeit, „Förder“maßnahmen wie 1-€-Jobs, Saisonjobs usw. pendeln und den Status „Langzeiterwerbslos“ nie ganz verlieren. Vorteil für die Beschäftiger: Langzeiterwerbslosen steht zB kein Mindestlohn zu, stattdessen aber Lohnsubvention durch die vermittelnde Behörde (AfA/JC), auch „Praktika“ mit geringer/keiner Entlohnung werden immer wieder gerne genommen. Es erschließt sich also eine gewisse Attraktivität, diese billigen Arbeitskräfte nicht zu weit zu fördern und nicht zu lange zu beschäftigen, damit nicht die üblichen Arbeitnehmerrechte anfangen zu greifen.
Exkurs Ende.
Also, es gibt immer noch, selbst nach offizieller Zählung, 1,2 Millionen Menschen, die aus dem Status der Unterbeschäftigung zwischen Jobcenter, Jojo-Jobs, Maßnahmen, Kurzeinstellung und Entlassung mutmaßlich noch in der Probezeit nicht herauskommen. Die sind nicht langzeitarbeitlos, sondern kriegen immer mal wieder ’nen Job und fliegen dann wieder raus. Bzw. werden kurzzeitig abhängig beschäftigt und dann wieder freigesetzt – aus Sicht der Wirtschaft doch eigentlich der Traum von Flexibilität und kurzfristiger Disponierbarkeit von Arbeitskräften.
Obwohl die überflexibel Beschäftigten also eigentlich die Idealvorstellung der modernen Arbeitskräfte darstellen, kriegen sie das Etikett „chronisch“ arbeitlos.
„Chronisch“, das hat Krankheitswert. Ich bin nicht chronisch gut drauf, chronisch glücklich, chronisch gesund, chronisch erfolgreich. Ich bin chronisch depressiv, chronisch vom Pech verfolgt, chronisch krank, und das vor allem, wenn ich mich zu lange nicht gekümmert habe(!) und die Krankheit verschleppt. Und jetzt neu: Chronisch arbeitslos.
Der Duden sagt zu chronisch:
Bedeutungsübersicht
1. (Medizin) (von Krankheiten) sich langsam entwickelnd und lange dauernd
2. (umgangssprachlich) dauernd, ständig
Oh, umgangssprachlich heißt das auch ’ständig‘. Erwarte ich von einer offiziellen Arbeitsmarktstatistik Umgangssprache? Doch eher nicht!
Achso, deswegen hat man es ja in Anführungszeichen gesetzt, um auszudrücken, dass es keine hochwissenschaftliche (medizinische) Bezeichnung darstellt?
Ob sich das jedem so erschließt, oder ob da nicht eher die Assoziation zu Krankheiten einsetzt? Wie oft benutzt man „chronisch“ umgangssprachlich positiv? „Du hast ja auch chronisch das Glück gepachtet“, oder „Dem seine Beziehung ist ja chronisch harmonisch“ – kommt mir ehrlich gesagt nicht so umgangssprachlich normal vor, höchstens noch mit einem sarkastischen Unterton.
Ich sehe da, so leid es mir tut und so bereit der Aluhut neben mir liegt, doch auch wieder eine geschickte Sprachverhunzung.
„Bestimmte Menschen sind chronisch arbeitslos, in der Regel trifft das besonders die sozial Schwachen.“
– um es mal mit der anderen Floskel, die ich so sehr hasse, direkt in einer spekulativ entworfenen Formulierung zu verbinden. Kann man sich doch gut vorstellen, dass das so in der Zeitung steht, oder?
Der Kniff dabei ist, die Schuld für die Situation den Betroffenen zuzuschieben. Arbeitslosigkeit als chronischer, quasi pathologischer Zustand, der bei der nicht so genau zu definierenden Gruppe „sozial Schwache“ eintritt, mit der man am Liebsten möglichst wenig gemein hat. Sozial schwach, das ist so negativ, das kann man ganz leicht von sich weisen. ‚Ich bin sozial richtig gut, meine social Skills pflege ich im Verein und unternehme mindestens 2x die Woche was mit meinen Freunden‘, kann man sich denken und sich beruhigt zurücklehnen.
Ehrlich wäre, das Thema beim Namen zu nennen und „arm“ zu sagen. Aber Armut, das passiert, das stößt einem zu: „Die Witwe ist nach dem Tod ihres Mannes völlig verarmt“, „Er stammte aus armen Verhältnissen“.
Sozial schwach hingegen, das ist ein Defizit, das liegt bei den Betroffenen, da klingt ‚asozial‘ mit, und die fehlende Bemühung, sozial zu sein.
„Sozial benachteiligt“, was noch etwas differenzierter klingt und gelegentlich verwendet wird, beschreibt die Auswirkungen von Armut: Man ist einfach nicht mehr in der Lage, mit den sozialen Aktivitäten Schritt zu halten. Wöchentlich ins Kino und danach noch auf einen Drink? Unbezahlbar. Aber wenn man oft genug absagt, verlieren die Freunde die Lust an einem, man gerät in Vergessenheit. Die Mitgliedschaft in Vereinen wird man aufgeben oder sehr genau aussortieren müssen, kostet ja auch Geld. „Wie, du streamst deine Musik nicht aufs Handy? Völlig von gestern, oder was?“ – aber Streaming gibt’s im Abo, 10€ im Monat, die man entweder nicht hat, oder vom Kino abziehen muss, oder… Nicht mal Mobilität ist in jedem Fall gegeben, oder spätestens auf Dauer: Sicher kann man das Rad nehmen oder laufen, aber fürs Rad braucht’s auch die passenden (warmen) Klamotten, oder was wasserdichtes zum Überziehen, und wenn dann mal ein Schlauch kaputt geht und die Schuhe durchgelaufen sind? Und die Leute zu sich nach Hause einladen, wenn man den Platz hat, mag das ein paar Mal gehen, aber die wollen nicht immer ihre Sachen mitbringen (bewirten??), oder mal wieder was anderes erleben. Und was es mit der Psyche macht: Selbst im Discounter immer nach unten bücken, wo die einfache Eigenmarke steht, in der ganzen Küche nur noch uniforme schmucklose Produkte mit einfachem Logo; abwägen, ob das Sonderangebot die Anreise dahin lohnt, rechnen, ob man sich das Duschgel für 1,49 statt der Eigenmarke für 0,59 diesen Monat gönnen kann… Im Amt steht dann eine wohlmeinende Stromberatung, die neuen LED-Leuchtmittel sind mit einer Woche Kartoffeln vllt. noch drin, aber von was soll man sich denn einen sparsamen Kühlschrank kaufen?
Das ist das, was aus Armut resultiert, schon vom Wohnen in der billigeren Gegend kriegt man einen mieseren Schufa-Score, potentielle Arbeitgeber schauen schon auch mal auf die Postleitzahl oder den Namen der Schule und sortieren danach aus, und noch so viel mehr. Armut macht soziale Nachteile, macht sozial schwach. Aber so unreflektiert und selbstverständlich, wie es gebraucht wird, steht die Floskel inzwischen für sich alleine, und über die Auswirkungen von Armut weiß außer den Betroffenen und ein paar Forschern1 keiner Bescheid und man denkt nur an Tafel, Flaschensammler und unbezahlte Stromrechnungen. Sozial schwach, und das jetzt auch noch chronisch…!2
Das ist das, was ich daran so bitterlich ankreide: Man schiebt über eine vermeintlich harmlose Formulierung die Schuld am Zustand den Betroffenen zu.
- (ja, Arbeitslosenforschung gibt es, sogar engagiert und kritisch [zurück]
- siehe weiter beim ‚Krankheitswert‘ von chronisch: wenn man sich zu spät kümmert, wird die Krankheit chronisch. die Erwerbslosen kümmern sich wohl zu schlecht um Arbeit, drum sind sie jetzt chronisch arbeitslos. oder wie sonst kommt das, dass sie trotz Beschäftigungen und Fördermaßnahmen(!) nicht dauerhaft in Arbeit bleiben….? [zurück]