Drogen, Selbstoptimierung, Gesundheitswahn

an der einen Ecke wird daran gearbeitet, zum Einstieg mal Cannabis zu entkriminalisieren, besser noch zu legalisieren bzw: regulieren, also für einen geordneten, qualitätsgesicherten, legalen Zugang dazu zu sorgen.
bisschen über diesen Tellerrand hinaus gibt es solche Anstrengungen sehr sehr leise auch für die restlichen Substanzen, die als „Drogen“ oder „Betäubungsmittel“ illegalisiert und vA diskreditiert sind.
die Akteure der Initiativen arbeiten hart, engagieren sich ehrbar und erreichen kleine, aber langsam mehr werdende Erfolge – Cannabis als Medizin-Gesetz, Kriminalbeamte sprechen sich für mindestens einen Verfolgungsstopp aus (LEAP), namhafte Unterstützer usw. usf.

aber auf der anderen Seite: die „Gesellschaft“.
dass der „kleine [dumme] Mann“ von der Straße dank jahrzehntelanger Propaganda von Einstiegsdroge, Haschischgiftspritzen, anständige Leute nehmen keine Drogen (sondern saufen) etc. von einer Regulierung natürlich nichts wissen will, geschenkt. es gab schon unpopulärere Gesetze, die dem Volksmaul zum Trotz verabschiedet wurden.

den echten Hemmschuh seh ich ganz woanders, es läuft wieder auf meine Lieblingsdystopie „Demolition Man“ hinaus. ja, der alberne Actionfilm mit Stallone und Snipes, wo die beiden eingefroren in einem Megacitykomplex aus San Francisco, Los Angeles uvm wieder aufwachen, man „Sanfte Grüße“ verteilt, Fleisch, starke Gewürze, Salz und Kontaktsportarten inkl. Sex verboten sind und Kraftausdrücke durch die allgegenwärtige Überwachung automatisch mit einem Credit Geldstrafe belegt werden.

beim Punkt ’starke Gewürze‘ bin ich schon ganz nah dran.
Zucker ist zur Zeit der dernier crí nach vielen anderen Hypes: Fett ist pfui, Eier sind pfui (Cholesteriiiiiiiiiin!), rotes Fleisch ist pfui, pfui hier, pfui da. Ernährung wurde in den letzten Jahren im allgemeinen Gesundheitswahn und der faktischen Sportpflicht zum zentralen Thema – Augenmaß ist out, es muss ein konkretes, elaboriertes Ernährungskonzept sein. Vegetarisch, vegan, roh, paläo, low-carb, no-carb, keton… wer sich einfach nach Lust und Gusto ernährt, steht kurz vor der sozialen Ächtung.

mein Lieblingsfeind im täglichen Konsum ist bekanntermaßen Rewe. die bewegen sich grade aus den Startlöchern mit einer Aktion, ihre Eigenmarken „gesünder“ zu machen. konkret: Salz, Zucker uvm. draus entfernen. ganz volksnah macht man das per (unkontrollierter) Verkostung.
als erstes gab es jetzt ein Set Schokopudding zu kaufen, die normale Standardrezeptur und drei weitere mit 20%, 30% und 40% weniger Zucker. auf der Packung ein Verifizierungscode, mit dem man dann im Netz abstimmen konnte, welche Sorte einem am besten schmeckt, und eine kleine Anleitung, wie man „fachmännisch“ verkostet.
ich hab auch gekostet, allerdings zu spät zum Abstimmen. Standard und -20% nahmen sich nicht viel, -30% muss ich schon nicht mehr wirklich haben und -40% läuft eher so unter Strafe.
was kam jetzt raus, als die Ergebnisse veröffentlicht wurden, was ist der Abstimmenden liebster Schokopudding? -30% *eek*

an der Methode hab ich gleich mehreres auszusetzen, schon rein praktisch: abstimmen im Netz, damit schließt man schon einen Teil der potenziellen Abstimmer aus, alte Leute haben womöglich nicht mal mitgekriegt, um was es geht.
aber vor allen Dingen: wen spricht so ne Initiative an?
die Klientel der Ernährungshype-Fans, der Selbstoptimierer, „ich stehe brav auf, wenn die $_Firma-Smartwatch mir das sagt“ [aus einer Werbung entnommen, aber hier sehr schön bezeichnend passend] und natürlich die Zucker-Feinde.
ganz subjektiv: -20% in dem Pudding, könnt ich noch damit leben, schmeckt völlig OK, hat den nötigen Dopamin-Kick, den ich bei einem Schoko(!)-Pudding(!) auch haben will – sonst könnt ich auch Taschentücher essen.
außerdem gäbe es noch viel sinnvollere Ansätze, die Aberwitzigkeiten von Food-Design wieder runterzufahren. Laktose in der Wurst, dafür 0,5% Ei in Mayonnaise: an zigtausend Stellen ist richtig viel Unfug im Essen, darunter dann auch mal Zucker und Salz. aber die fallen bei Licht besehen nicht mal wirklich ins Gewicht, verglichen mit 60% Zusätzen, die in einem herkömmlichen Selbst-Mach-Rezept nicht drin sind, und dort auch nicht fehlen.

die Abstimmung mit einem massiven Vorsprung für die -30%-Rezeptur (original: 5,4% | -20% Zucker: 19,6% der Stimmen | -30%: 45% | -40%: 30%) seh ich schlicht verfälscht.
wenn die Menschheit schon seit Jahrzehnten was gegen starken Zuckergeschmack hätte, gäbe es die großen Absätze und Umsätze mit massiv süßem Zeug nicht, bei Getränken, bei Süßigkeiten, Schokoladen, Eis usw. usf. da sind aber riesige Absatzmärkte, bei Geschmacksnuancen, die auch mir wesentlich zu süß sind. also eine Ablehnung gegen „süß“ an sich – Fehlanzeige. gern wird derzeit behauptet, das läge (auch) an einer frühzeitig vorgenommenen Prägung auf besonders süß, durch diverse Produkte ab dem ersten Muttermilchersatz – das erklärt aber nicht die ganzen traditionellen Süßigkeiten, die nicht weniger süß sind…
die Abstimmunge gewonnen hat dann aber ein Pudding mit einer Ahnung von süß und ansonsten auch eher geschmacksarm. der Zucker wurde nicht mit etwas mehr Schoko ausgeglichen, oder sonstige Chancen, die man hätte wahrnehmen können, wenn man den Zucker runterfährt.

da krieg ich keine logische Erklärung hin, außer der:
Zucker ist der Feind! „wir“ haben die Gelegenheit, Schokopudding umzustellen, damit da nur noch gaaaanz wenig Zucker drin ist. und „wir“ wollen auch merken, dass wir verzichten! also ein Pudding mit weniger Zucker, dem man das nicht anschmeckt, wäre gar nicht in „unserem“ Interesse!

die Askese ist nicht lustvoll, die Belohnung für den Verzicht muss irgendwie extern geholt werden. für die täglichen 10.000 Schritte muss die mitzählende Smartwatch zeitnah dudeln und „loben“, am besten noch im Wettstreit mit Familie und Freundeskreis, und wenn „wir“ beim Essen verzichten, dann müssen „wir“ das auch merken, damit „uns“ bewusst wird, dass „wir“ „brav“ waren und der Kick, den die „gesunde Alternative“ nicht mehr liefert, dann über die Moral kommt.

„einfach so“ vernünftig essen, auch mal ein Supersize-Menu reinhauen – macht gar nix, wenn man es nicht zusätzlich zu den anderen fünf Mahlzeiten am Tag ist, sondern dafür halt dann drei oder vier auslässt – das ist unmöglich, nicht gangbar, damit kann man keine App füttern, die dann mit höherem Punktestand, Sternchen und Funkelsound lobt. der Krankenkassen-App für den Beitragsbonus kann man das natürlich auch nicht sagen.
also muss Konzept her, Belohnung, permanente externe Motivation zum „guten“ und „richtigen“ Verhalten.

der Gesundheitswahn der Society ist so weit eskaliert, dass man sich freiwillig den Schokopudding verdirbt; und die nächsten „Optimierungen“ sind schon in der Pipeline. aber nicht nur sich selbst streicht man die Freude am Exzess, sondern allen anderen ungefragt mit: die neue Rezeptur hat die vorherige ersetzt und nicht nur ergänzt.

angesichts solchen Dogmatismus‘ schwindet mir die Hoffnung, am anderen Ende des Kontinuums bestünde in absehbarer Zeit die Chance, von Verboten und (wohlmeinendem) Zwang abzurücken und stattdessen zu Akzeptanz für eine informierte, freie und mündige Entscheidung bezüglich des Konsums von Substanzen zu kommen. erst recht, wenn das öffentlich gemalte Bild von „Drogen“ und Konsum immer noch von Unwahrheiten, Übertreibungen, Horrorgeschichten und „clean oder Tod“ geprägt ist.