Wieder mal das Primat der Arbeit…

„32 Jahre alt und nie gearbeitet. Was machen solche Leute nur den ganzen Tag?“ fragte sich die Tatort-Kommissarin, als sie sich mit dem Mordopfer vertraut macht.

Auch wenn im Film das Bild vom Berufs-Sohn gezeichnet wird, der den goldenen Löffel ab Geburt nicht nur im Mund stecken hatte und seine Zeit zu großen Teilen mit Koks und Nutten rumbringt, es ist der Ton, mit dem die Figur der Kommissarin diese Feststellung macht und diese Frage stellt, der völlige Unverstand, das Unvorstellbare an dieser Art der Lebensführung.

Und das ist das Kranke, das dieser Gesellschaft quer im Halse steckt und sie daran hindert, über ein Entwicklungslevel auf Höhe von Gutsherr und Untertan hinauszuwachsen.
Diese Unfähigkeit, sich eine sinnvolle, sinnspendende Lebensführung ohne das Primat der Erwerbsarbeit auch nur vorzustellen, diese Nachgeburt der Calvinistischen Leistungsethik, die alles durchdringt … Da schüttle ICH verständnislos den Kopf.

Wo ist die Wertschätzung der Muße geblieben, wo die Fähigkeit, sich mit sich selbst zu beschäftigen?

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Das obige hab ich beim „Aufräumen“ in einem alten Entwurf gefunden, stammt schon von 2014.

Zur Zeit gewinnt es aber wieder bemerkenswert an Aktualität, wo sich weite Teile der Bevölkerung notgedrungen auf ihre vier Wände beschränkt sehen; sei es aus Selbstschutz, Betreuungspflichten und sowieso wegen der angeordneten Kontaktvermeidung.

Geistiger Zwischenruf am Rande:
Hände hoch, wer hat sich schon mal gedacht, Knast ist viel zu luxuriös, so ohne Steinekloppen (Zwangsarbeit gibt es btw schon, das sprichwörtliche Tütenkleben ist immer noch existent. Zu einem Tages(!)lohn unter 12€ und ohne Aufbau von Rentenanwartschaft – Altersarmut fast garantiert)?
Wie ist das jetzt, so eingeschränkt auf die eigene Wohnung, wahlweise Einzelhaft für die Singles oder Umschluss für Familien und WGs? Wie oft schon die Wand hoch gegangen, innerlich oder ganz real?
Dabei haben wir unsere Schlüssel noch selbst, können selbst entscheiden, wann wir wo einkaufen gehen, etc., die Lage ist also noch nicht mal wirklich vergleichbar. Trotzdem wird schon von Lagerkollern berichtet… Denkt das nächste Mal drüber nach, wenn jemand damit kommt, Knast wäre Luxusurlaub…

Aber zurück zum alten Text, der mich bewog, ihn spontan aufzugreifen und mich mal wieder über mein Liebstes zu verbreiten:
Das Primat der Erwerbsarbeit und seine Früchte, darunter die zwei schlimmsten, die Unmöglichkeit, sich ein anderes Leben vorzustellen und die Unfähigkeit, mit frei verfügbarer Zeit etwas anzufangen.

Die erste macht die Nicht-Lohnarbeiter zu Aliens, zu Wesen ganz seltsamer Art, schließlich kriegen die ihre Tage herum, ohne von Termin zu Termin zu eilen, ohne nachts noch am Handy erreichbar zu sein oder nach 8-2 Stunden Arbeit inkl. Überstunden und dem Lebenserhalt totgeschafft ins Bett fallen, bis um 5:30h der Wecker wieder klingelt und zur nächsten Schicht ruft. Die Nicht-Erwerbstätigen werden zu einer fremden Gruppe, mit der man nichts gemein hat. Die Entfremdung ist ein guter Anfang, um sich immer weiter von „denen“ zu distanzieren, ihnen alles denkbare amoralische oder schlechte (cave die Subjektivität, die dem innewohnt!) zuzuschreiben, Faulheit, Suff, schlaffe Moral, Dummheit, Bildungsferne… am Schluss ist sogar entmenschlichen nicht mehr weit weg.
Aber praktisch, auf diese Weise werden gleich zwei Zwecke realisiert. Die Besetzung mit allen schlechten Eigenschaften ist hilfreich, „denen“ möglichst Rechte wegzunehmen und Pflichten aufzuerlegen, für die sich jeder ehrbar Arbeitende aber schön bedanken würde, und zweitens wächst die Angst, am Ende auch mal in die Situation zu kommen (denn die Kündigung könnte ja jeden Morgen in der Post stecken, gell? insgeheim wissen das alle…) und bevor man zu „denen“ gehört, wird jede denkbare Anstrengung unternommen, zum Zweit- der Dritt- und Viertjob angenommen, zur Not ein Kredit aufgenommen, nur um nicht zum „Sozi“ zu müssen wie der Pöbel.

Schlimmer ist aber, seine Zeit nicht mehr füllen zu können, ohne dass einem einer dafür den Inhalt und den Takt vorgibt. Erst recht in neuerer Zeit, wo auch die Tage der Kinder durchgetaktet sind von Freizeitaktivität zu Zusatzseminar, damit schon der vorschulische Lebenslauf vor Exzellenz glitzert, ist das Vorhandensein von schierer Zeit ein Rätsel. Eines, mit dem kaum noch umgegangen werden kann. Es ist wie im Urlaub, nach ein paar Tagen ohne Vorgaben, in denen man „sinnlos“ aufeinandersitzt, kippt die Stimmung, man wünscht sich förmlich auf die Arbeit, weit weg von den „Lieben“ und dahin, wo die Zeit nicht auf einem drückt, sondern Mangelware ist, immer zu kurz, um den Auftrag fertig zu kriegen.

Die Durchhaltespots im TV, ergänzend zum mittlerweise allgegenwärtigen Hashtag „#wirbleibenZuhause„, switchten nach gut einer Woche von Aufrufen über Danksagungen an die, die das Überleben sichern (Sanität und Einzelhandel, und natürlich die, die Zuhause bleiben) zu Beispielen, was man jetzt zu Hause alles machen kann, die Gesellschaftsspiele vom Speicher holen bspw. Netflix ist wohl schon durchgebinget und das letzte Malbuch voll, und dass Buchhandlungen nicht zum lebensnotwendigen Bedarf zählen und öffnen dürfen, spricht irgendwie für sich. Baumärkte übrigens schon – vllt. auch nur, damit wenigstens Vati im Bastelkeller verschwinden kann, oder auf dem Balkon das lange geplante Hochbeet angelegt werden kann, schließlich ist auch grade Frühling und Pflanzzeit, und vllt. kommen die Klopapierbaum-Samen noch rechtzeitig auf den Markt, das würde auch den Einzelhandel entlasten… Die Köche mit Fernsehjob – haben’s gut, die Lokale sind zu, wohl dem, der noch einen Nebenjob hat – kochen zT. mit-, zT. gegeneinander, jedenfalls immer da, wo sonst Publikum mitmachen dürfte, machen sie die Show jetzt halt allein. Aus dem Kochshow-Studio oder der heimischen Küche, kochen wäre ja auch was, was wieder ein paar Leute beschäftigen könnte. Vorsicht: Nudeln, Mehl und Dauerwaren möglichst vermeiden, Rezepte mit Frischware bevorzugen…

Aber was die Fernsehköche, From-Home-Talkmaster und Spielt-doch-was-miteinander-Spots mit allen anderen gemein haben, wohin mit der verfluchten Zeit?!?

Da tun die mir einfach fürchterlich leid, die es nicht besser können.
Sich nicht mit heller Freude im Buch vertiefen können (gern auch ohne Rotwein, hilft, mehr als 20 Seiten zu lesen), keine Idee haben, was man zu Papier/Leinwand/Holz/Blog bringen könnte, kein Musikinstrument, das man schon lange lernen wollte, schon mal gekauft aber noch nie angefasst hat, noch nicht mal allein/paarweise spazieren gehen und evtl. die rausplatzenden Frühlingsblumen Handy-Knipsen (zur Not um die Wette!) –
sie tun mir leid, und ein kleines bisschen hab ich auch Angst, ob die durchhalten, bis es zurück geht Richtung „normal“…

(trotz des Datums kein AprilscherzPost. wann der nächste kommt, keine Ahnung, bei aller Muße mag ich mich auch nicht dauernd nur ärgern)